Ein für unser Land tragisches Ereignis feiert in diesem Jahr „90-jähriges Jubiläum“: die Machtergreifung Hitlers. Allein der Begriff verheißt nichts Gutes: Machtergreifung. Die Macht wird ergriffen, ein kämpferisches Wort, kein Wort des Friedens, sondern ein Wort des Kampfes. In der Tat war es ein Vorgang, der unsere Geschichte wie kein zweiter verändert hat. Als Adolf Hitler am 30. Januar 1933 vom Reichspräsidenten von Hindenburg mit dem Amt des Reichskanzlers betraut wurde, ahnte niemand die Folgen dieses Schrittes. Nach jahrelangen Kämpfen, ständig wechselnden Regierungen als Folge der Weltwirtschaftskrise 1929 und den dramatischen Arbeitslosenzahlen, begleitet von ständigen Neuwahlen, die zu keinem wirklichen Ergebnis führten, waren die meisten Deutschen froh, dass nun bessere Zeiten anzubrechen schienen. Mit „dem Hitler werden wir schon fertig“, den „drücken wir bald an die Wand“ – das war die Meinung der meisten (noch immer kaisertreuen) konservativen Politiker. Hauptsache war, dass die „rote Gefahr“ gebannt war, nämlich die angeblich drohende Gefahr, dass Deutschland nach der Sowjetunion der zweite „kommunistische Staat“ in Europa werden würde. Warum diese lange geschichtsträchtige Vorrede? Erstens lebt niemand mehr von den damaligen Zeitgenossen. Zweitens wird diese „nationale Erhebung“, wie sie genannt wurde, heute zunehmend von den Rechtsradikalen missbraucht. Neben den unzähligen Verbrechen der Hitlerdiktatur wird allzu oft vergessen, wie die Christen jener Zeit zu leiden hatten, ohne dabei die Tragödie der Juden und ihren tödlicher Ausgang außer Acht zu lassen. Das Bekenntnis zum Christentum und seines Grundgedankens der Nächstenliebe war in der Nazi-Ideologie unvereinbar mit dem Rassegedanken und dem damit verbundenen Herrenmenschentum. Der Rassegedanke war geprägt von der Auslöschung „minderwertiger Rassen“ und nicht mit dem Miteinander von Menschen jeder Religion und/oder Hautfarbe. Bezeichnend war die Schaffung eines lutherischen „Reichsbischofs“. Müller war sein Name, ehemals Wehrkreispfarrer in Königsberg, der als Vertreter der „Deutschen Christen“ die Evangelischen auf Hitler und das Reich einschwören sollte. Zur bitteren Wahrheit gehört aber leider auch, dass die meisten evangelischen Pfarrer aus unterschiedlichen Gründen diesem Weg folgten und in Hitler den ersehnten Heilsbringer sahen. Widerstand regte sich in der Synode der „Bekennenden Kirche“, die in (Wuppertal-) Barmen tagte und versuchte, sich dem radikalen Geist der offiziellen Kirche zu widersetzen. Angesichts des Apparats der Unterdrückung waren deren Versuche jedoch wenig erfolgversprechend, den Nazis entgegenzutreten. Selbst Pfarrer Martin Niemöller, einst U- Boot-Kommandant im Ersten Weltkrieg, glühender Nationalist und anfänglicher Anhänger Hitlers, vermochte nicht, die Kirche aus der Politik heraus- zuhalten und ihren wirklichen Auftrag, Nächstenliebe und Versöhnung, gegen die NSDAP umzusetzen. Auf ganz andere Weise versuchte Dietrich Bonhoeffer, ebenfalls Mitglied der Bekennenden Kirche, den Nazis entgegenzutreten. Er war weltläufig, wie man heute sagen würde, gut vernetzt, und dennoch ebenso wenig in der Lage, die Gefahr im Ausland so deutlich zu machen, dass die internationalen Kirchen wirksam protestierten. Ob in den USA, ob in Schwe- den, Länder, in die Bonhoeffer gereist ist, um zu warnen – niemand war sich der Tragweite des Hitlerterrors wirklich bewusst. Er war der buchstäbliche einsame Rufer in der Wüste. Dass er sich in der Folge dem Widerstand um die Männer des 20. Juli anschloss, die ein weiteres Attentat auf Hitler planten und durchführten, liegt nur in der Konsequenz seines Denkens und Handelns. Sein jämmerlicher Tod im KZ- Flossenbürg, wo er auf ausdrücklichen Befehls Hitlers auf grausamste Weise umgebracht wurde, setzte nur den Schlusspunkt unter dieses dunkle Kapitel unserer, auch Kirchengeschichte.
Was bleibt für uns als Konsequenz aus dieser Zeit und dem Handeln dieser Mutigen? Niemals mehr darf die Macht in den Händen einiger weniger oder eines Apparates liegen. Jede und jeder muss sich dem Gedanken widersetzen, dass das „Heil“ verordnet wird. Insofern liegen demokratisches Handeln und christlicher Mut dicht beieinander. Niemals darf es Kompromisse geben mit denen, die totalitäres Handeln dulden. Keine „bürgerfreien Zonen“, wo die Gesetze unseres Landes scheinbar nicht mehr gelten, weil andere bestimmen, was Gesetz ist und was nicht. Christen sollen sich nicht im Büßergewand sehen, sondern ihre Vorstellungen von Recht, Gerechtigkeit und Freiheit (des Christen- menschen: Martin Luther) einbringen und durchsetzen. „Hab Geduld, flüstert das Land – ich schlafe“. So eröffnet die Pfarrerin der Klinikkirche München- Großhadern ihren Gottesdienst und fügt an: „Ich werde wiederkommen, flüstert das Licht.“ (Zeitschrift chrismon 02/2023) An uns liegt es, das Licht wieder leuchten zu lassen, das Licht der Gerechtigkeit als das Licht der Zukunft.
Die Hoffnung liegt bei uns allen, dieses Licht leuchten zu lassen als Beitrag des täglichen Christseins. Hoffnung heißt nicht, nichts zu tun, Hoffnung heißt darauf hinzuwirken, dass Christsein sich niederschlägt in der Verteidigung der Menschenrechte. Wenn ein Krieg Unrecht ist und die Menschenrechte mit tödlicher Gewalt auslöschen will, ist Widerstand Gottes Gebot. Wir sollten aus unserer eigenen Geschichte gelernt haben und alles daransetzen, dass Kriegsherren niemals siegen – weder in der Ukraine noch sonst wo auf der Welt. Allein die Geschichte lehrt uns zu widerstehen so wie Christus widerstanden hat. Verführung ist einfach. Charakter zu zeigen dagegen schwer – nicht nur zu Jesu Zeiten, sondern gerade in unserer Zeit. Jeden Tag und jede Stunde!
Manfred Stoppe