Fangen wir mit einer Betrachtung der jüngeren Geschichte an, sonst können wir die Gegen-wart nicht verstehen. Diese Einsicht ist keineswegs neu, aber zwingend. Deutschland im Jahr 1938 – Hitler, der das Land diktatorisch regiert und jede freie Meinungs-äußerung unterdrückt, geht auf Expansionskurs: Das „Schwesterland“ Österreich holt er „heim ins Reich“. Russland im Jahr 2014 – sein absoluter Herrscher Putin „holt die Krim ins heilige Russland“ zurück. Die Parallelen sind völlig gleich. Die Bewohner der Krim jubeln wie einst die Österreicher. Das macht Appetit auf Mehr: Hitler holt die Sudentendeutschen „heim ins Reich“, nachdem er die West(!)Mächte – noch friedlich – aufs Kreuz gelegt hat. Bei Putin läuft es nicht ganz so glatt: die Russen im Osten der Ukraine, die auch in der Ukraine leben wollen (!), werden im Sinne „eines Reiches für alle Russen“ aufgehetzt, so dass es zum Bürgerkrieg kommt. Und dann fällt die wahre Maske sowohl bei Hitler als auch bei Putin: Die restliche Tschecho-slowakei wird zerschlagen, Böhmen und Mähren „unter deutschen Schutz“ gestellt. Der Über-fall auf Polen, angeblich wegen der Stadt Danzig, markiert den Beginn des Zweiten Welt-kriegs! Dessen Ende ist bekannt: Deutschland besiegt, Millionen von Toten, Europa ein Trümmerhaufen! Putin tut Gleiches. Angeblich ist der Schutz der Russen in der Ukraine nicht gewährleistet, also wird das Land mit Krieg überzogen. Ausgang ungewiss … Wenn die Geschichtsvorlage greift, heißt das, Russland zu besiegen, unter welchen Opfern auch immer! Nur gibt es heute einen wesentlichen Unterschied: Nuklearwaffen! Was geschieht, wenn ein totaler Herrscher wie Putin sich in die Ecke gedrängt fühlt und dann den berühmten „roten Knopf“ drücken lässt? Hitler hat in seinem Testament behauptet, das deutsche Volk sei zu schwach und müsse mit ihm untergehen. Denkt Putin ähnlich? Wohl kaum, denn die Reaktion des Westens wäre auch sein Untergang. Und die Moral von der Geschicht´? Waffengewalt ist jetzt ohne Wenn und Aber unverzicht-bar – und das sage ich als Christ –, genauso unverzichtbar ist die Hoffnung, dass selbst ein Diktator wie Putin die Sackgasse erkennt, in der er steckt, und die Erkenntnis, dass selbst Atomwaffen ihn nicht daraus befreien, wenn sein geliebtes „Mütterchen“ Russland nicht den Atomtod sterben soll. „Geliebtes“? Ja, denn daran lässt er keinen Zweifel, auch in seiner demonstrativen Verbun-denheit mit der orthodoxen Kirche Russlands. Liebe – ist es das Zauberwort, das alles wenden kann? Jesus hat in seiner Zeit auch einem Reich und dessen Machthabern widerstehen müssen. Er war den Römern unbequem in seiner Lehre von der Liebe Gottes und der daraus abgeleiteten Liebe zu und unter den Menschen. Also taten sie nichts, um Jesus vor dem Tod zu retten, sie halfen im Gegenteil mit durch die damals übliche Praxis der Kreuzigung. Die zentrale Aussage des Christentums – auch des orthodoxen – ist die Liebe zu und unter den Menschen. Liebe beginnt mit dem Respekt vor jedem Menschen. Respektlosigkeit beginnt mit der Abwertung der oder des Anderen und der Duldung, ja sogar der Tötung derjenigen, die auf eine andere Art zu leben wünschen. Ja, es ist die bittere Wahrheit, dass dieser Um-stand in der menschlichen Gesellschaft – auch in unserer – tiefe Wurzeln hat. Vom alltäglichen Rassismus zieht sich der rote Faden bis hin zum gegenwärtigen Krieg. Macht und Einfluss über Andere haben zu wollen, ist beileibe nicht neu. Liebe ist die Gegenkraft. Und wenn wir heute die erschütternden Bilder aus dem Krieg sehen, rühren sie uns an – den russischen Menschen aber nicht? Die Russin und der Russe „auf der Straße“, wie man so sagt, ist kein Kriegstreiber, ist nicht herzlos oder gar unser Feind. Unser Feind ist Putin, der mit der Kerze in der Hand die Liebe heuchelt und gleichzeitig Menschen vernichten lässt. Es mag für eine Generation, die keinen Krieg so hautnah erlebt hat, eine widersprüchliche Welt sein: Waffen sollen und müssen die Liebe erzwingen, nicht nur die Nächstenliebe zu den Geflüchteten. „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ Wie soll das gehen bei einem Menschen wie dem russischen Diktator, so muss man ihn wohl nennen? Hilflosigkeit macht sich breit gegenüber dem Kriegsgeschehen. Es bleibt kein anderer Ausweg – Waffenlieferungen auf der einen, aber auch Unterstützung für die Bevölkerung der Ukraine auf der anderen Seite – mehr bleibt nicht zu tun, außer zu hoffen und zu beten, dass auch der schlimmste Kriegstreiber doch zur Vernunft kommt. Um zum Anfang zurückzukehren: Als die Alliierten den Weltmachtanspruch Deutschlands blutig zerschlugen, war dies nicht das Ende für die Deutschen, denen man trotz vieler Vorbehalte schließlich wieder die Hand reichte. Das wäre der Friedenstraum und der Traum von der Liebe, die die Gewalt besiegt. Träumen und hoffen wir weiter. Mutlosigkeit oder Gleichgültigkeit wären das Verderben aller. Manfred Stoppe |