Vor einigen Wochen hat sich für jeden von uns die Welt ver-
ändert. Freunde treffen, einkaufen, zur Arbeit, Schule, Kindergarten gehen, Kino- oder Konzertbesuche, am Gottesdienst teilnehmen, gemeinsam singen – auf einmal war nichts mehr selbstverständlich. Als ich am Freitag, den 13. 3., unsere Altenpflegeschüler unvermittelt aus dem Schulblock in die Pra- xiseinsätze entlassen musste, hatte ich schon ein merkwürdiges Gefühl. Ich gab ihnen noch kleine Kittelflaschen mit Händedesinfektionsmittel mit und erinnerte an die wichtigsten Hygieneregeln, die ich ihnen beigebracht hatte. „Behaltet einen klaren Kopf, kümmert euch um eure alten Menschen und vergesst nicht für euch selbst zu sorgen. Wir sehen uns bald wieder…“, damit entließ ich sie schweren Herzens. Danach durften auch wir Lehrer die Schule nicht mehr betreten. Wir mussten von zuhause aus arbeiten, ohne direkten Kontakt zu Schülern und Kollegen. Das fehlte mir sehr. Wie viele andere Menschen auch versetzte mich dieses unfreiwillige Arbeitsverbot in ein Gefühlschaos. Ich erlebte ein Gefühl des Kontrollverlustes und alte Verlustängste brachen wieder auf. Was kommt da auf uns zu? Wird meine kleine Welt zerbrechen…? In dieser ersten Woche drohte die Panik mich zu überfluten. Ein Mangel wurde meine Rettung. Sehr schnell wurde mir bewusst, dass in Praxen und Altenheimen kaum mehr 16 Schutzkleidung da war. Ich begann ge-gen die Panik anzunähen, teils bis zur Erschöpfung – aber etwas Sinnvolles zu tun, hat mir geholfen. Stoffe hatte ich genug, die richtige Passform kannte ich aus meiner Zeit auf der Intensivstation. Nachdem Schrägband bald Mangelware war, halfen Freunde und Kollegen aus. Sie bestellten auf eigene Kosten oder fertigten selbst aus alten Laken Schrägband. Es gab viele schöne Begegnungen in dieser Zeit, wenn auch mit Abstand. Schülerinnen holten bündelweise Mund- schutze ab, konnten ein bisschen von ihren Sorgen und Nöten erzählen und so auch Kontakt halten. Wundersame Heilung erfuhr ich auch durch die Natur, zeigt sie uns doch immer wieder, dass es weitergeht. Seit Jahren beobachte ich als phänologische Mitarbeiterin für den Deutschen Wetterdienst Ent- wicklungsphasen von Pflanzen. Ich hatte ja jetzt tagsüber mehr Zeit und so konnte ich erstmals fast alle Beobachtungsphasen rechtzeitig notieren.
Bei schönstem Sonnenschein fuhr ich täglich mein Beobachtungsgebiet ab und der aufbrechenden Natur hinterher. Welch glücklicher Mensch bin ich doch, dass ich einen Garten habe. Den Früh- ling erlebte ich dieses Jahr besonders intensiv. Das Aufknospen und Erblühen der Pflanzen, die Partnersuche der Vögel, Nestbau und Versorgung der kleinen Familien – alles ein Wunder. Ich habe neue Aufgaben und wieder einen Platz in dieser Zeit gefunden. Ich sorge für meine kleine Welt und freue mich an den vielen Tieren im Garten. Ich bin froh, dass meine Blaumeisen weiterhin gesund und munter ihre Kinderschar füttern. Für Stare, Amseln, Sperlinge, Ringeltauben, Zilpzalp und Co liefere ich täglich Nachschub an Vogelfutter und Frischwasser. Ich freue mich über all das Lebendige um mich herum, erlebe es intensiv und bin glücklich über die vielen kleinen schönen Momente im Hier und Jetzt. Wozu sind wir auf dieser Welt, was ist der Sinn unseres Lebens? Von der Schriftstellerin Luise Rinser stammt eine wunderbare Antwort, gera- de für Zeiten wie diese: „…ich könnte sagen, fragen sie nicht danach, son- dern leben Sie, wie man leben soll: sein Tagwerk getreulich erfüllen, Menschen lieben, Gutes tun in vieler Form und die Erde lieben und ihren Schöpfer, dann erfahren Sie ganz von selbst, dass das Leben einen Sinn hat, auch wenn Sie ihn nicht benen- nen können, sondern ihn nur füh- len…“ Bleiben Sie zuversichtlich und behütet.
Sigrid Jüchems