Ich bete an die Macht der Liebe. Kennen Sie diese Liedzeile? Sie entstammt einem Choral des Predigers Gerhard Teerstegen (*1697- †1769), einem bedeutenden Autor von Kirchenliedern.
Im Evangelischen Gesangbuch (Regionalteil Rheinland/Westfalen/Lippe, Nr. 661) ist das Lied verzeichnet. Warum zitiere ich so genau? Viele von Ihnen, die Soldat wa- ren, werden diese Zeile kennen und nicht wissen, woher sie stammt. Der Choral ist nämlich Bestandteil des militärischen Zapfenstreiches der Bundeswehr und wird bei jeder Vereidigung von Soldaten oder der Verabschiedung von Generälen oder Ministern gespielt: Helm ab zum Gebet! Ich wusste es, ehrlich gesagt, auch nicht gleich. Dabei hilft heutzutage die Suche im Internet sehr zuverlässig. Aber es gibt noch einen gewichtigeren Grund, diese Liedzeile genauer zu betrachten. Aus diesem Grunde ist die ganze Strophe abgedruckt: Ich bete an die Macht der Liebe, die sich in Jesus offenbart; ich geb mich hin dem freien Triebe, wodurch ich Wurm geliebet ward; ich will, anstatt an mich zu denken, ins Meer der Liebe mich versenken. Sie wirkt beim ersten Lesen äußerst befremdlich. Jesu Liebe zu den Menschen als eine Macht zu bezeichnen, mag noch hingehen. Doch was soll es heißen, sich „dem freien Triebe“ hinzugeben? Darf ich machen, was ich will, wenn ich von der Liebe Jesu getragen bin? Ist dadurch alles, auch jegliches Unrecht gerechtfertigt?
Und warum werde ich als „Wurm“ begriffen, der nicht an sich denken, sondern sich bedingungslos „ins Meer der Liebe“ versenken soll? Ich lese das so: Wenn ich von Jesus geliebt werde, bin ich ebenfalls mächtig und tue daher, was mir in den Sinn kommt. Macht also als eine Kraft, die lieben, aber auch zerstören kann. Andererseits werde ich als Wurm bezeichnet, ein unerhörter Angriff auf meine Menschenwürde! Ist die Liebe demnach eine Macht, die mein Ego begrenzt, mich zu einem „Wurm“ im Meer herabwürdigt? Die Doppeldeutigkeit dieser Zeilen bleibt bestehen! Unglaublich, wenn man bedenkt, wie viele Menschen auf diese Weise betrogen wurden, wenn sie für die Liebe zum „Führer“, zum Vaterland in den Krieg geschickt wurden – und selbst heute werden manche Politiker nicht müde, sich die Hoffnungen oder Befürchtungen von Menschen in schäbiger Weise zunutze zu machen. Krieg gegen andere Länder, die man erobern will, aber auch Krieg gegen Menschen, die man im eigenen Land nicht haben und am liebsten vertreiben möchte. Um den Krieg vorzubereiten, gab und gibt es ein wirksames Mittel: Hass zu schüren. In der NS- Zeit hieß es: „Du bist nichts, dein Volk ist alles.“ Auf der Straße, im Internet, in den sozialen (?) Medien sind Hetze und Hasstiraden, die die „deutsche Art“ verherrlichen, leider ein schreckliches Übel, das offensichtlich unausrottbar ist und seine Wirkung leider nicht verfehlt, weil die schweigende Mehrheit – schweigt. Ganz anders ist der Begriff „Macht“ zu verstehen, wenn man sich vor Augen führt, was der Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer im Angesicht des zu erwartenden Todes gedichtet hat: Von guten Mächten wunderbar ge- borgen. Erwarten wir getrost was kommen mag. Gott ist mit uns am Abend und am Morgen. Und ganz gewiss an jedem neuen Tag. In diesen Zeilen spiegelt sich das Vertrauen in eine göttliche Macht, die uns nicht erniedrigen will und totale Hingabe erwartet, die uns im Gegenteil durch das Leben tragen will und Zuversicht verbreitet. Keine Machtspiele, sondern Trost spendend selbst in aussichtsloser Lage, machen diese Worte zu Lebensbegleitern. Hier gibt es keine Doppel- sondern Eindeutigkeit. Das ist ja das Gefährliche an der Macht, dass sie verführerisch ist und „Herrenmenschen“ hervorbringen kann, dass sie andererseits aber zum Guten, zur Liebe befähigt. Macht ist die Grundlage der Herrschaft von Men- schen über Menschen. Die Frage ist in jedem Fall, wie die Herrschaft ausgeübt wird. Kommunismus, Faschismus und Nationalsozialismus sind letztlich an der Machtfrage gescheitert, wenn die Menschen sich ihrer eigenen, liebenden Macht bewusst sind. Die friedliche Revolution im Herbst 1989 ist der schlüssige Beweis, dass Ideologien zum Untergang verdammt sind, wenn das Individuum als „Wurm unter Würmern“ gesehen wird. Die Demokratie als Herr- schaftsform ist zwar ebenso unvollkom- men wie alles Menschengemachte, aber sie ist im Ganzen gesehen eine Form, die die Vielfalt von Interessen wider- spiegelt und in die sich jeder einbringen kann – wenn er oder sie will. Die Diskussion um die beste aller Möglichkeiten der Machtausübung muss jedoch von gegenseitiger Achtung, ja sogar Liebe getragen werden. Damit schließt sich der Kreis: Ich bete an die Macht der Liebe. Wenn sie bedingungslos ist und meine Würde achtet, dann kann sich das Herz öffnen! Ach ja, Weihnachten – ist es nicht das machtlose Kind in der Krippe, welches jedoch unsere Liebe herausfordert? In diesem Sinne wünsche ich allen ein wirklich Frohes Fest!
Manfred Stoppe