Caritas ist der lateinische Begriff für „Hochachtung, hingebende Liebe, uneigennütziges Wohlwollen“, im Christentum die Bezeichnung für die tätige Nächstenliebe und Wohltätigkeit. Warum schreibe ich darüber, obwohl ich ursprünglich anderes im Sinn hatte? Sie werden den Gedankengang erkennen: „Charité“ ist nicht nur die französische Form, sondern zugleich vielen sicherlich geläufig als das bekannteste Klinikums Berlins. Ich war im Klinikum, nicht in Berlin, sondern in Braunschweig.

Wie aus dem sprichwörtlich heiteren Himmel hatte ich Brustschmerzen, so dass ich es mit der Angst bekam. Meine Frau rief den Notarzt, und danach begann das ganze Programm der Untersuchung. Ich hatte einen Herzinfarkt erlitten! In aller Kürze: Einweisung ins Krankenhaus, Untersuchung und Herzkatheter mit dem Ergebnis, dass ein Herzkranzgefäß blockiert war. Der Bildschirm log nicht, ich selbst konnte mich davon überzeugen. Verlegung nach Braunschweig in die Kardiologie. Eine große Herzoperation, als Bypass bekannt, schien bevorzustehen. Gott sei Dank kam die Entwarnung: Nur ein „Stent“ würde reichen, um das Herzkranzgefäß zu stabilisieren. Große Erleichterung und gelungene Operation! Warum schildere ich das alles? Gewiss nicht, um Mitleid zu erheischen. Sondern um erstens zu warnen, wie schnell etwas Derartiges passieren und das gewohnte Leben ändern kann, und um zweitens zu zeigen, was „Caritas“ im täglichen Leben zu leisten imstande ist. Es ist nämlich so, dass man völlig hilflos ist! Aus bisheriger Aktivität wird notgedrungen Passivität:

Gewohnte Gewissheiten schwinden, schon das Essen ist plötzlich eine Herausforderung, jede unter Umständen falsche Bewegung kann Nachblutungen auslösen, man ist im Kosmos der Klinik anderen Normen unterworfen. Nun mag man einwenden, dass das für viele Operierte zutrifft. Aber das Herz! Der Lebensmotor! Eine ganz andere Dimension! Ich denke, dass man spätestens in diesem Augenblick die eigene Endlichkeit erfährt und betet, dass alles gut gehen möge. Nie spürt man die Abhängigkeit von anderen Menschen so sehr.

Der Operateur, Meister seines Faches, gibt sein Bestes – hochkonzentriert arbeitet er in einem fremden Körper, um ihn „heil“ zu machen. Das Personal im Operationssaal ist hochmotiviert und gleichzeitig auf das Zusammenspiel aller Beteiligten angewiesen. Denn nicht nur die Durchführung, schon die Vorbereitung der Operation erfordert ein Maß an Konzentration, das keine Schwächen erlaubt. Ob man nun Christ(in) ist oder nicht, hier geht es um den leidenden Menschen, dem nach besten Kräften zu helfen ist. Die Operation ist letztlich ein – wesentlicher – Teilaspekt. Die Nachsorge ist ebenso wichtig. Hochachtung, Uneigennützigkeit, Wohlwollen – diese Caritas ist der Grundstein für unser Zusammenleben, gerade in derartig abgründigen Lebenslagen. In den wenigen Tagen des Klinikaufenthaltes habe ich ein Vielfaches davon erfahren dürfen. Menschen, die sich zuwenden, aufmuntern und um das Wohl der Patienten besorgt sind, und zwar Tag und Nacht.

Neben den üblichen Routinearbeiten gilt es, unruhigen Patienten gut zuzureden, ängstlichen Patienten die Gewissheit zu geben, dass man für sie da ist. Sich Zeit zu nehmen für Gespräche „am Rande“. So erging es mir mit einem erfahrenen, nicht mehr ganz jungen Pfleger, der über seine Erlebnisse im Klinikalltag erzählte und dabei eine Zuversicht verströmte, als sei man hier zur Erholung.

Er wohnt in Seesen, eine knappe Autostunde von Braunschweig entfernt. Aber er fährt gern hier zur Arbeit, weil die Atmosphäre in der Klinik und das Miteinander der Pflegenden für ihn ausschlaggebend sind. Ein „Typ“ mit langem Bart, der nach dem Abitur vieles ausprobiert hat, beim Finanzamt gearbeitet, schottische Dudelsackmusik (mit CDs) spielt. Man würde ihn für einen Hippie halten, alternativ und haschend.

Nein, er hat sich letztlich mit großem Ernst für den Pflegeberuf entschieden. Ich habe nicht gefragt, ob er Christ ist, aber er lebt ein Ethos, das jedem Christen zur Ehre gereichen würde. Und dann gibt es die „Schwestern“ von den Philippinen, die in Deutschland arbeiten, um ihre Familien daheim zu unterstützen. Eine berichtete, dass ihre Mutter einen Schlaganfall erlitten habe und das Geld aus Deutschland willkommen war für die Rehabilitation. Man mag über den „schnöden Mammon“ denken, wie man will. Für mich offenbarte sich in diesen Situationen gelebtes Christentum, eine Haltung, die ich mir von vielen Zeitgenossen bei uns wünschte. Natürlich darf man nicht alle Menschen über einen Kamm scheren, doch eröffnet das eigene Schicksal die Augen für viele andere Lebenssituationen, und man ist dankbar für jegliche Fürsorge.

Eine eigene Krankheit ist schlimm genug, aber sie eröffnet mitunter Horizonte, die man sonst nicht kennengelernt hätte. Caritas im Krankenhaus mag eine besondere Form des Daseins sein, aber ich wünschte sie auch – und gerade – im täglichen Leben. Caritas – mögen Sie einen behüteten Sommer haben.

Manfred Stoppe

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