Er strich manchmal tagelang um das Gerichtsgebäude herum, unschlüssig, ob er hineingehen und sein Anliegen vortragen oder doch lieber darauf verzichten solle.
Als Kind wohnte ich dort, weil mein Vater an eben diesem Gericht beschäf- tigt war, und irgendwie tat er mir leid. Er war nicht der Einzige: Eines Tages fuhr ein Mann vor, der offensichtlich keine Beine mehr hatte, er fuhr in einer Art Liegerollstuhl, ob selbst gebaut oder ob es derartige Gefährte für die Kriegsversehrten, wie man sie nannte, gab, weiß ich nicht mehr. Ich habe auch nie danach gefragt – und das ist der Punkt. Die Vergangenheit war für die Elterngeneration abgeschlossen, Keine Fragen. Keine Antworten. Natürlich wurde vom Krieg erzählt, von den vermeintlichen Heldentaten, von den Opfern, die die Deutschen bringen mussten bis hin zu Flucht und Vertreibung. Dass der Krieg unnötig verloren ging, weil „die Anderen“ – ohne es verdient zu haben – in der Übermacht waren. Über die wahren Gründe und Hintergründe wurde nicht gesprochen, und als Kind verstand man rein gar nichts. Dass diese Zeit des Sich-nicht-erinnern-wollens eine der Ursachen der 68-er Bewegung war, ist heute hinlänglich bekannt. Doch warum komme ich im Alter darauf zurück? Ist es auch das Trauma der Nachkriegsgeneration? In Abwandlung eines Satzes von Wilhelm von Humboldt, dem großen deutschen Gelehrten und Namensgeber der Berliner Universität, muss man sagen: Wer seine Wurzeln nicht kennt, hat auch keine Zukunft.
Unsere Wurzeln sind die Erinnerungen, die wir mit uns tragen. Schon die Bibel ist voll von Erzählungen über die Vergangenheit des jüdischen Volkes, damit es nicht in Wurzellosigkeit verfällt, sondern sich zu seinen Traditionen bekennt. Selbst Jesus hat sich stets als ein Jude gesehen, der in der Tradition steht und den Glauben erneuern wollte. Insofern ist es nur folgerichtig, dass die Migranten und deren Nachkommen zu ihren Wurzeln stehen. Unzählige Deutsche tragen einen ausländischen, oftmals polnischen, Namen und verleugnen ihre Herkunft aus der Väter- und Vorvätergeneration. Warum ist das so? Naheliegend ist die sogenannte Schlussstrich-Argumentation: Ich bin Deutscher und die Vergangenheit ist mir egal. Vergessen oder verdrängen hilft der Seele nicht. Wir stehen in der Reihe der Ahnen, ob wir wollen oder nicht. Das gilt fürden „Einheimischen“ wie für den Flüchtling. Auch wer „heimisch“ wird, kennt, wenn er klug ist, seine Herkunft. Das Fremdsein bleibt dann nicht wurzellos, sondern knüpft fruchtbare Verbindungen zwischen den Kulturen. Die Gewissheit, dass Menschen schon immer (aus-)gewandert sind, schützt vor Überheblichkeit im Sinne von„Herrenrasse“. Wir erleben geradeeine Neuauflage dieser Denkrichtung in rechten Kreisen, die wir glaubten, überwunden zu haben. Nein, „der Deutsche, der Arier“ ist nicht der Bessere, der Überlegene.
Wer diesem Spuk anhängt, begebe sich nach Auschwitz oder, das möge schon reichen, an den Atlantikwall mit seinen unzähligen Bunkern, der den Machtanspruch des deutschen Volkes über andere Völker bis heute dokumentiert. Dann kann es wie mir passieren, dass ich Französinnen, erheblich jünger als ich, als Deutscher erklären muss (weil man einfach gefragt wird), was es mit diesen Bunkern und teilweise erhal- tenen Kanone n auf sich ha t. Nich t dassichverlegenodermirdieSache peinlich gewesen wäre, nein. Aber ich e rklä re ihnen , weil ich höflich bin, die Sünden unserer Väter. Soll ich meine Wurzeln verleugnen? Schon Petrus hatte Gewissensbisse, als er seinen „Herrn“, seinen „Chef“ oder sein „Idol“ verleugnete: Jesus kenne ich nicht, wer soll das sein? Wer leugnet, trennt sich von seiner und der Geschichte. Für den Krieg und all seinen Begleiterscheinungen und Folgen können wir nichts. Schuldig sind wir nicht, aber wir sollten uns immer wieder erinnern, was war, und dass es nicht wieder zu einem Zerwürfnis der Völker kommen darf. Erinnerung tut der Seele gut und verhindert eine n eue Überheblichkeit anderen Menschen gegenüber. Mag der Postbote Youssuf heißen oder der Kellner Pawel, alle tun ihre Arbeit und verdienen Respekt. Auch sie haben eine Vergangenheit, haben Wurzeln, die sie – hoffentlich nicht – verleugnen müssen.
Über ihre Schicksale nicht zu reden, ihre Lebensläufe totzuschweigen, ist der gleiche Fehler, den unsere Väter und Großväter bereits begangen haben. Deren Geschichtsverdrehung zu ihren Gunsten hat die heutzutage fatale Fehleinschätzung zur Folge, dass „das damals“ alles nicht so schlimm war und wir bis heute büßen müssen. Keinerlei Reue, kein Schuldbewusstsein, keine Spur christlicher Nächstenliebe ist der Sumpf,aus dem es blubbert und die Sinne der Nachgeborenen vernebelt. Unsere Weltoffenheit, die beim Urlaub auf Mallorca gern besungen wird, verkommt zu einer Haltung der Einigelung, die nur darauf bedacht ist, alles nur annähernd Fremde abzulehnen und auszugrenzen. Diese Haltung schwächt Europa. Nicht nur die Europäische Union, sondern alle kulturellen Errungenschaften dieses Kontinents. Nationalismus ist nicht nur der Totengräber der Union, sondern er verachtet die Menschen, die zu uns in der Hoffnung flüchten, hier eine Heimstatt zu finden. Wir sollten sie aufnehmen, um – auch wenn es wi- dersinnig erscheint – unser Europa in einer globalisierten Welt zu erhalten. Das wäre das Mindeste, was unsere christlichen Wurzeln ausmacht – und keine Bange , die Fremden entchristlichen uns nicht, auch nicht der Islam. Das besorgen viele selbst mit ihrer Lebensweise.
Manfred Stoppe